Perspektiven in Zeiten der Krise.

Die Welt steht still. Was kann Kultur in einer globalen Krisensituation leisten? 

Sie kann stützen, motivieren, Impulse liefern, Perspektiven zeigen. 

Die weise Frau.

Die weise Frau.

Marie Anne Victoire Boivin 
1773-1841, Hebamme und Anatomin

„Sage-femme“ heißt Hebamme auf Französisch. Das bedeutet “weise Frau”. Im wahrsten Sinne des Wortes eine weise Frau war die französische Hebamme Marie Anne Victoire Boivin. Als solche trat sie in große Fußstapfen: Die Hebammen Angélique Marguerite Le Boursier Du Coudray (1712 – 1794) und Marie Louise Lachapelle (1769 – 1821) hatten das angesehene Hôtel-Dieu, das älteste Hospital in Paris, geleitet. Beide hatten Lehrbücher über Geburtshilfe veröffentlicht und unzählige Ärzte und Hebammen unterrichtet.



Marie Anne Boivin begann ihre Ausbildung mit zwanzig Jahren. Nach ihrer Heirat gab sie jedoch ihren Beruf zunächst auf. Als ihr Mann früh starb, ging sie mit ihrer Tochter nach Paris, um ihre Kenntnisse zu vertiefen. Sie wurde zuerst Schülerin und später Assistentin und Stellvertreterin von Marie Louise Lachapelle, die inzwischen die Leitung eines neu gegründeten Mütterhospizes in Paris übernommen hatte.

Die Kunst der Geburt

Marie Anne Boivin veröffentlichte in den folgenden Jahren zahlreiche wissenschaftliche Publikationen zum Thema Geburtshilfe. Ihr Hauptwerk „Die Kunst der Geburt“ ist ein anschauliches Handbuch mit vielen Abbildungen. Es erschien erstmals 1812 und wurde auch ins Italienische und Deutsche übersetzt.

Marie Anne Victoire Boivin, Handbuch der Geburtshülfe, Krieger, Cassel, Marburg 1829, Tafel 84 und 91.

Marie Anne Victoire Boivin, Handbuch der Geburtshülfe, Krieger, Cassel, Marburg 1829, Tafel 84 und 91.

Madame Boivin war auch eine der ersten, die das Stethoskop zum Abhören der Herztöne des Kindes im Mutterleib verwendete. Außerdem entwickelte sie verschiedene medizinische Instrumente, darunter das so genannte Intrapelvimeter, mit dessen Hilfe das Becken der Frau innerlich vermessen werden kann. Auch ein verbessertes Vaginalspeculum geht auf sie zurück.

Die Hebamme beschäftigte sich aber nicht nur mit Geburtshilfe, sondern auch mit Krankheiten der Blase oder der Gebärmutter. Gemeinsam mit dem Arzt Antoine Dugès beschrieb sie zum ersten Mal den Krebs der weiblichen Harnröhre und verfasste ein Standardwerk zu Gebärmutterkrankheiten.

Verweigerte Anerkennung

Obwohl sie als Koryphäe auf ihrem Gebiet so berühmt und anerkannt war, dass sogar die russische Zarin auf sie aufmerksam wurde und sie an ihren Hof holen wollte, verweigerte man ihr ein Medizinstudium und die Anerkennung durch die Französische Akademie der Wissenschaften. Dass sie eine Frau war, war Grund genug.
Sie erhielt viele Angebote aus dem Ausland. Allerdings wollte sie ihr Land nicht verlassen. So wurde sie Leiterin des Königlichen Spitals in Bordeaux.

Erst im Jahre 1827 wurde ihr eine Ehre zuteil, auf die sie in Frankreich vergeblich gewartet hatte: Die Universität Marburg verlieh ihr die Doktorwürde in Heilkunde und Geburtshilfe und bestätigte damit nicht nur ihre Anerkennung als Hebamme, sondern auch als Ärztin. Sie bedankte sich mit einem Brief, in dem sie die Professoren der medizinischen Fakultät Marburgs dafür lobt, ohne „jedes Vorurteil in Beziehung auf den Stand, das Vaterland und das Geschlecht“ gehandelt zu haben.

Ausstellung im Frauenmuseum Hittisau 2018: PFLEGE DAS LEBEN Betreuung. Pflege. Sorgekultur.  © Ines Agostinelli

Ausstellung im Frauenmuseum Hittisau 2018: PFLEGE DAS LEBEN Betreuung. Pflege. Sorgekultur.
© Ines Agostinelli

Ihr Beispiel zeigt auch, dass sich in Frankreich die vielgelobten Tugenden der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit vor allem auf die Männer bezogen. Die Lage der Frauen hatte sich nach der Französischen Revolution verschlechtert. Die große Hoffnung, die die Frauen in die Verabschiedung der Menschenrechte gesetzt hatten, wurde durch die Realität zunichte gemacht.

Marie Anne Boivin lebte trotz vieler Ehrungen und großer Berühmtheit in einfachen Verhältnissen. Ihr Ende war ganz und gar nicht glanzvoll: Sie starb verbittert und verarmt nach langer Krankheit als Fürsorgeempfängerin.

Text: Roswitha Fessler

Images: © https://fr.wikipedia.org/wiki/Fichier:MarieAnneVictoireBoivin.jpg © https://ub.meduniwien.ac.at/blog/?paged=2&cat=40 © Frauenmuseum Hittisau Ines Agostinelli

References:
https://ub.meduniwien.ac.at/blog/?tag=marie-anne-victoire-boivin
https://www.fembio.org/biographie.php/frau/biographie/marie-anne-victorine-boivin/

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