Perspektiven in Zeiten der Krise.

Die Welt steht still. Was kann Kultur in einer globalen Krisensituation leisten? 

Sie kann stützen, motivieren, Impulse liefern, Perspektiven zeigen. 

Im Innern meiner Seele bin ich weise.

Im Innern meiner Seele bin ich weise.

Hildegard von Bingen
1098 – 1179, Theologin, Universalgelehrte, Komponistin 

Bis in das 12. Jahrhundert galten die Klöster als alleinige Zentren der Bildung. Nur dort war es auch Frauen möglich, sich ungehindert mit Kunst und Wissenschaft zu beschäftigen. Eine Äbtissin war nicht nur Vorsteherin eines Nonnenklosters, sie besaß auch politische Macht und übte die Gerichtsbarkeit über die Bewohner*innen ihrer oft großen Ländereien aus. 

Eine solche einflussreiche Äbtissin war Hildegard von Bingen. 

Sie wurde als zehntes Kind einer Adelsfamilie geboren und – wie damals üblich – bereits mit acht Jahren in ein Kloster geschickt, um ihr Leben Gott zu weihen. Als angehende Nonne wurde sie in den sieben freien Künsten (Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Musik, Geometrie, Astronomie), in Latein und Kirchengeschichte unterrichtet. Sie legte die Ordensgelübde einer Benediktinerin ab und wurde später Vorsteherin des Frauenkonvents. 1147 gründete sie ein Kloster auf dem Rupertsberg bei Bingen, 1165 ein weiteres in Eibingen für nichtadelige Frauen. 

Ihre Werke

Hildegard verfasste theologische Werke, in denen sie wie ihre männlichen Kollegen eine eigenständige Darstellung vom Ursprung der Welt, dem Platz des Menschen im Kosmos und dem Jenseits formulierte. Sie schrieb darin dem Göttlichen sowohl männliche als auch weibliche Züge zu und entwickelte eine neue Sichtweise auf die damals vertretene Geschlechterhierarchie. Nach Hildegard besitzt der Mann keineswegs eine höhere Begabung als die Frau. 

Trotzdem bezeichnete sie sich immer wieder als „armselige, ungebildete Frau“, was von Forscher*innen als „Demutsformel“ ausgelegt wird, die von gebildeten Nonnen verwendet wurde, um nicht als hochmütig zu gelten. Dass diese Formel nicht ganz ernst gemeint war, zeigt auch das Zitat Hildegards:

Im Innern meiner Seele bin ich weise.

Hildegard von Bingen

Hildegard am Schreibpult Miniatur aus dem sogenannten Lucca-Codex des “Liber divinorum operum”, um 1220/1230

Hildegard am Schreibpult
Miniatur aus dem sogenannten Lucca-Codex des “Liber divinorum operum”, um 1220/1230

Sie behauptete auch, den Auftrag für ihre Schriften in Visionen direkt von Gott erhalten zu haben: „Und wieder vernahm ich eine Stimme vom Himmel, und sie sprach zu mir: Erhebe deine Stimme und schreibe also.“ Heute wird das vielfach als kluger Schachzug Hildegards interpretiert, um auf diese Weise als Frau mit ihren theologischen Lehrmeinungen anerkannt zu werden, was ihr auch gelang. 

Vielseitige Universalgelehrte

Sie war außerdem als Heilerin berühmt, ihre medizinische Abhandlung „Causae et curae“ beschäftigt sich mit der menschlichen Natur, der Sexualität, Krankheitsursachen und ihren Behandlungsmethoden. Hildegard kannte 485 Pflanzen und ihre Heilwirkung und wurde von hochgestellten Frauen um ihre Hilfe gebeten. Königin Beatrix von Burgund, die Ehefrau des Kaisers Friedrich Barbarossa, erhoffte sich z. B. von ihr eine Behandlung gegen die Unfruchtbarkeit. 

Pflege das Leben, wo du es triffst.

Hildegard von Bingen

Ausstellung im Frauenmuseum Hittisau 2017: PFLEGE DAS LEBEN. Betreuung*Pflege*Sorgekultur

Ausstellung im Frauenmuseum Hittisau 2017: PFLEGE DAS LEBEN. Betreuung*Pflege*Sorgekultur

Ihr Briefwechsel mit hochgestellten Persönlichkeiten ihrer Zeit belegt ihre Bedeutung. Sie korrespondierte unter anderen mit Papst Eugen III., Bernhard von Clairvaux und Eleonore von Aquitanien.  Auch als Komponistin leistete Hildegard Beachtliches. Sie hinterließ zahlreiche liturgische Gesänge in der Tradition des gregorianischen Chorals. 

Mutige Vorreiterin

Heute ist sie weltberühmt und wird auf vielfältige Weise vermarktet. Obwohl von ihr keine Kochrezepte überliefert sind, stehen heute Hildegard-Kochbücher und Ernährungsratgeber auf den Bestsellerlisten, Hildegard-Kochkurse sind ausgebucht und medizinische Ratgeber mit ihrem Namen boomen. 

Ihre eigentliche Leistung liegt aber im ökologischen Gedanken, indem sie den Menschen als Teil der Schöpfung und nicht als Herrscher über die Natur betrachtete und in ihrer anderen Sicht auf die Rollen von Mann und Frau, indem sie die Gleichwertigkeit der Geschlechter betonte. Damit erwies sich Hildegard von Bingen im 12. Jh. als mutige Vorreiterin.

Text: Roswitha Fessler

Images © https://de.wikipedia.org/wiki/Hildegard_von_Bingen#/media/Datei:Hildegard_von_Bingen.jpg © https://www.heiligenlexikon.de/BiographienH/Hildegard_von_Bingen.html © Ines Agostinelli

References:
Duby, Georges/Perrot, Michelle (Hrsg.): Geschichte der Frauen, Bd.2. Frankfurt am Main 1997
Auffermann, Verena u.a.: Leidenschaften. 99 Autorinnen der Weltliteratur. München 2009


Aufwachen und Verändern.

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Briefe aus dem Orient.

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